Zeitungsartikel vom 16.09.03, Anzeiger aus dem Bezirk Affoltern

Kantonsräte meinen: Abenteuerliche Steuersenkungen

Von Lisette Müller-Jaag, Knonau

"Über Gäld redt me nöd, das hät me..." so salopp kann das Thema Finanzen nur begraben, wer zu den Betuchten gehört. Dazu gehört unser Staat zurzeit nicht. Im Kantonsrat ist das Geld ständig ein Thema, die Lage ist verzwickt. Die Steuereinnahmen nehmen ab, die Aufgaben und Ausgaben jedoch nehmen zu. Was rät uns da der gesunde Menschenverstand? Jeder halbwegs vernünftige Familienrat würde nach zusätzlichen Einnahmequellen suchen und die Ausgaben vermindern, damit die Waage wieder ins Gleichgewicht kommt. Da ist es kaum nachvollziehbar, wie man ernsthaft und mutwillig die Einnahmen verringern kann ohne sich zuvor darüber einig zu werden, wo denn die Einsparungen konkret gemacht werden.

Das Prinzip der Steuern ist uralt. Es verlangt dass die einzelnen Glieder der Gesellschaft einen Beitrag leisten an die Aufwände der Allgemeinheit. In früheren Zeiten erfolgte dies durch Frondienst oder durch die Abgabe eines Teils der Ernte. Heute bezahlt man Steuern auf Bundes-, Kantons- und Gemeindeebene, die sich nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Steuerzahlenden bemessen und abgestuft sind. Die Verwendung dieser Gelder ist Sache von Regierung und Parlament. Die Prioritäten sind unterschiedlich, die Interessenkonflikte je länger desto grösser.

Durch die Steuersenkungen musste der Regierungsrat gezwungenermassen Vorschläge für Einsparungen machen, doch sie treffen schmerzhaft und stossen auf Widerstand. Die Befürworter von weiteren Steuersenkungen haben selbstverständlich auch ihre Argumente. Und so verschieden sie im Detail auch sind, eines ist ihnen gemeinsam: eine vage Zukunft. Im Augenblick verspricht man gerne niedrigere Steuern und irgendwann, so behaupten die Steuersenker lautstark, werden sich weniger Einnahmen auszahlen. Statt vom Garten Eden sprechen sie vom Steuerparadies, das die Reichen aller Welt anziehen und unsere Probleme lösen wird. Das klingt natürlich verlockend. Doch wenn wir das Märchenhafte für einen Moment verlassen und uns in die Niederungen nackter Tatsachen begeben, sieht es ein bisschen anders aus.

Die Schweiz war und ist noch immer ein Steuerparadies. Das bestätigt auch die neuste Studie des Zentrums für europäische Wirtschaftsforschung, ZEW, die im Juni 2003 vorgestellt wurde. In keinem andern Land müssen Privathaushalte weniger Steuern bezahlen als bei uns. Und nur gerade Irland kann bei den tiefen Unternehmenssteuern mit der Schweiz mithalten. Das sind erfreuliche Tatsachen. Das Gegenteil zu behaupten, ist schlicht und einfach bewusste Irreführung des Stimmvolkes. Und weil sich auch in den umliegenden Ländern Widerstand gegen zusätzliche Steuergeschenke für die ganz Reichen regt, wird unser Land auch weiterhin attraktiv bleiben. Wer seinen Goldschatz nicht auf einer Insel mit unberechenbaren Häuptlingen begraben will, legt sein Geld nach wie vor in der Schweiz an. Doch die guten Steuerzahler kommen auch aus ganz anderen Gründen in die Schweiz. Gründe, die gerne unterschlagen, von der Wirtschaftsförderung aber bestätigt werden: Gute Steuerzahler, namhafte Firmen kommen zu uns, weil sie hier eine hohe Lebensqualität finden. Auf der entsprechenden Weltrangliste nimmt Zürich sogar den ersten Platz ein. Wer in die Schweiz kommt, schätzt unser Bildungssystem, unser Gesundheitswesen, unsere intakte Landschaft, den sozialen Frieden, die funktionierende Verwaltung, den öffentlichen Verkehr und - die nach wie vor geringe Steuerbelastung. Das sind Fakten, keine Wunschträume. Erstaunen mag dies nur jene Politiker, die bei wichtigen Entscheiden das menschliche Moment ausser Acht lassen. Berücksichtigen nicht auch knallharte Manager bei ihren Standortentscheiden das eigene Wohlergehen und die Zufriedenheit ihrer Familie? Das ist das Schöne an solchen Auswahlverfahren.

Weniger schön wäre es, wenn wir mit weiteren Steuersenkungen genau diese Vorteile aufs Spiel setzten. Man darf sich wohl fragen, weshalb sich im Kantonsrat Leute finden, die dem Staat das Geld für so wichtige Aufgaben entziehen wollen. Die Antwort kann ich nur vermuten. Vielleicht profitieren die Steuersenker ganz persönlich von einer anderen Verteilung, vielleicht sprechen sie im Auftrag von einzelnen Unternehmen. Vielleicht haben sie den Sinn für das Gemeinwohl irgendwann verloren. Doch so altbacken der Begriff Gemeinwohl auch klingen mag, für die politische Arbeit sollte er nach wie vor im Zentrum aller Überlegungen sein.

Zum Gemeinwohl gehört auch der soziale Frieden. Und genau der ist äusserst gefährdet, wenn Sparübungen auf dem Buckel der Schwächsten durchgeführt werden. Wir kritisieren die Zweiklassen-Gesellschaften anderer Länder, sind selber aber auf dem Weg, es ihnen gleich zu tun. Wir sind stolz auf unsere sozialen Errungenschaften, doch wir gefährden sie mit der Aushöhlung des Staates fahrlässig. Wir schätzen ein friedliches Zusammenleben und riskieren dennoch Spannungen durch grosse soziale Unterschiede.

Auch eine eigenständige Schweiz braucht Reformen, keine Frage. Aber bei jedem Entscheid müssen wir die Frage stellen, ob er mit unseren Grundwerten vereinbar ist. Wie diese Werte begründet werden, ist von zweitrangiger Bedeutung. Für mich sind es christliche Werte, für andere leiten sie sich aus der Vernunft, aus persönlichen Überzeugungen ab. Ein sparsamer Umgang mit Ressourcen, zu denen auch das Geld gehört, ist ein christliches Gebot. Und dass vor allem diejenigen von Steuersenkungen profitieren sollen, die Geldsorgen nicht kennen oder gar von ihren astronomischen Abfindungen möglichst wenig dem Staat zukommen lassen wollen, hat in meinem Weltbild keinen Platz.

Die Auswirkungen von zusätzlichen Steuersenkungen und Sparübungen müssen den Bürgerinnen und Bürgern auch im Hinblick auf die kommenden Nationalratswahlen bewusst sein. "Sich nach der Decke strecken" klingt gut und ist zurzeit populär. Aber wieso sollen das in erste Linie diejenigen tun, die ohnehin schon knapper dran sind? Was erhalten sie von denen, die sich kaum strecken müssen, von den Grossen, Reichen und Mächtigen? Ein Lob für ihr gutes Verhalten? Den Schwächsten beissen die Hunde, bedeutet in einer Politik der Steuersenkungen und Sparwut, dass viele Gemeinden ihr Angebot reduzieren oder sich künftig noch stärker verschulden. Das sehen wir bei der Abschaffung der Beihilfen für Bezüger und Bezügerinnen von Ergänzungsleistungen, beim Verzicht auf die kantonale Differenzzulage zu Kinderzulagen in der Landwirtschaft, bei Einsparungen für die öffentliche Sicherheit, um nur einige zu nennen.

Als Schulpräsidentin beschäftigen mich die Abstriche im Bildungswesen besonders. Die Reduktion der Beiträge für Förderunterricht, die Anhebung der Klassengrösse und der Verzicht auf Entlastungsstunden für Lehrkräfte (Poolstunden) werden den Schulalltag bedeutend erschweren. Die Chancengleichheit ist gefährdet. Aber auch die ganzheitliche Bildung steht auf dem Spiel. Der Verzicht auf einzelne Schulfächer aus pädagogischen Gründen lässt sich diskutieren. Wenn aber allein aus Spargründen die Handarbeit reduziert und auf die Angebotspflicht von biblischer Geschichte (und Sittenlehre, wie es früher hiess) verzichtet wird, geht ein Stück Menschenbildung verloren. Das geringe Einsparungspotenzial steht in keinem Verhältnis zum Verlust. Handwerkliches Arbeiten schult die Feinmotorik und fördert die Kreativität. Und die Wissenschaft beweist uns heute, was wir als Nachkommen von Pestalozzi schon immer ahnten: Handarbeit regt die Gehirntätigkeit an und steigert die Lernfähigkeit. Ausserdem schafft sie Selbstwertgefühl. Es mag zutreffen, dass Handarbeit nicht in allen Ländern gelehrt wird, aber gerade auf unsere ganzheitliche Bildung sind wir zu Recht so stolz. Und zu einer solchen Bildung gehört eben auch das Wissen darüber, was uns geprägt hat. Wer seine Wurzeln nicht kennt, verliert schnell einmal die Orientierung. Religion und Kultur gehören zu unserem historischen Erbe. Wer mit Sparübungen verhindern möchte, dass dieses Wissen an unsere Kinder weitergegeben wird, muss auch die Verantwortung für die Folgen übernehmen. Sich über geistige Verwahrlosung zu beklagen ist das eine, sie sogar zu fördern das andere. Kulturelles Wissen sensibilisiert für die Mitwelt, für die Menschen und ihre unterschiedlichen Bedürfnisse. Es vermittelt Werte. Damit ist es ein wichtiges Instrument zur Förderung von Integration. Angesichts disziplinarischer Schwierigkeiten und Desinteresse besteht die Gefahr, dass Gemeinden ganz auf das Angebot verzichten. Das Vakuum müsste wohl später durch ein neues Fach wieder gefüllt werden. Vielleicht heisst es dann "Menschenbildung" oder "Life Skills". Aber auch unter anderem Namen wird Wertevermittlung nicht gratis zu haben sein. Vielleicht müsste man die Steuersenker und Sparer noch beharrlicher nach ihren Werten fragen.

Knonau, 10.9.2003 Lisette Müller-Jaag,

 

 

 
  14-Feb-2011 aktualisiert