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Zeitungsartikel
vom 13.6.2003, Anzeiger
aus dem Bezirk Affoltern
Kantonsräte meinen
Heute:
Lisette Müller (EVP)
Der 19. Mai
war für mich kein Montag wie jeder andere, begann doch
an diesem Tag
meine Tätigkeit als Kantonsrätin. Heute möchte
ich meine ersten Eindrücke beschreiben, Gedanken, die
ich mir dabei mache und Vorstellungen über die politische
Tätigkeit. Eingeläutet - im wahrsten Sinn des Wortes
- wurde die neue Amtsdauer mit einem ökumenischen Gottsdienst
im Grossmünster «zur Eröffnung der Legislatur
2003 bis 2007 des Kantonsrates und des Regierungsrates des
Eidgenössischen Standes Zürich». Dabei wurde
die Choralkantate «Lobe den Herren, den mächtigen
König der Ehren» von Bach aufgeführt. Die
Wichtigkeit der eigenen Person relativierend vermittelte sieZuversicht
und Segen. Der Kammerchor «Arsmusica reformata»
sang Bachs festliche Komposition, begleitet von historischen
Instrumenten des Orchesters «La chapelle ancienne».Entstanden
ist die Kantate zu einer Zeit desÜbergangs, des Umbruchs.
Der neue Respekt für den Menschen als einzigartiges,
individuelles Geschöpf, begann erste Folgen zu zeigen:Waisenhäuser
wurden errichtet, die Leibeigenschaft angeprangert, Meinungsfreiheit
eingefordert.
Das war 1725. Und heute, Generationen später,
erklang die Lobpreisung erneut zum Zürcher Amtswechsel.
Der Gottesdienst, das gemeinsam gesprochene «Vater unser»
durch die neu- und wieder gewählten Abgeordneten des
Volkes, die Besinnung auf etwas, was über den Menschen
steht, haben mich berührt.
Im Ratsaal wurde nach der «Erwahrung»
der Wahl jedes Ratsmitglied mit Name aufgerufen und das Amtsgelübde
vorgelesen: «Ich gelobe, als Mitglied dieses Rates Verfassung
und Gesetze des Bundes und des Kantons Zürich zu halten,
die Rechte der Menschen und des Volkes zu schützen und
die Einheit und Würde des Staates
zu wahren. Die Pflichten meines Amtes will ich gewissenhaft
erfüllen». Gemeinsam im Chor versprachen die versammelten
Volksvertreterinnen und -Vertreter von Legislative und Exekutive,
von Kantonsrat
und Regierungsrat:
«Ich gelobe es!»
Geloben hängt nicht mit lob en zusammen.
Geloben heisst versprechen, sich an ein Ver-
sprechen halten. Was heisst das konkret? Wie wäre es,
wenn wir uns alle an dieses Gelübde halten, «die
Volks- und Menschenrechte schützen»? Heisst das
nicht auch, für alle Menschen einzutreten, gleich welcher
Herkunft, unabhängig vom Alter, behindert oder nicht?
Ich leite Chancengleichheit daraus ab. Und zur Würde
des Staates gehört für mich, dass man ihm das gibt,
was er braucht, um all seine Aufgaben zu erfüllen, um
die gemeinsamen Bedürfnisse zu befriedigen und mit guten
Lösungen auf gemeinsame Probleme reagieren zu können.
Das bedeutet allerdings auch, dass der Einzelne zum Wohl der
Allgemeinheit manchmal zurückstehen muss. Das Streben
nach Ausgleich gehört dazu und nach dem Verbindenden.
Ist es mit einem solchen Gelübde vereinbar,
zuzusehen wie Millionenbeträge in die Tasche Einzelner
fliessen und gleichzeitig entlassene Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer das Nachsehen haben? Muss es nicht beunruhigen,
dass Ehrlichkeit, Respekt und Nächstenliebe nicht mehr
selbstverständlich sind und Solidarität in bedenklichem
Masse abnimmt? Sind Steuerbetrug und Bestechung tatsächlich
als «Kavaliersdelikte» hinzunehmen? Was geschieht
wohl mit einer Gesellschaft, deren Werte als Grundlage des
politischen, des persönlichen und des gesellschaftlichen
Handelns verloren gehen? Werte werden im Elternhaus vermittelt,
in der Kirche und auch in der Schule. Sie sind die Grundlage
unserer humanistischen Tradition. Noch lernen die Kinder unser
eigenes, christliches Kulturgut im biblischen Geschichtsunterricht
kennen, sowie im KoKoRu, dem kooperativen konfessionellen
Unterricht. Das Fach in der Oberstufe heisst neu «Religion
und Kultur» und will den Kindern aller Glaubensrichtungen
Kenntnisse und Werte der eigenen wie auch der anderen Religionen
vermitteln und gegenseitiges Verständnis und Achtung
fördern. Die Wertevermittlung bedeutet Sozialisierung
und fördert durch ein breiteres Verständnis die
Integration. Die Streichung der Subventionen für dieses
Fach und der aufgezwungene Verzicht auf die Angebotspflicht
an der Oberstufe ist eine der Sparmassnahmen im Kanton dies
könnte ein erster Schritt zur langfristigen Abschaffung
bedeuten. Ihre Auswirkung auf unsere Kinder, auf unsere Gesellschaft
betrachte ich gravierend. Hier geht genau das verloren, nämlich
Menschenbildung und Sozialkompetem unbestritten als Kernkompetenzen
in der Bestigung des Alltags in Familie, Schule und Beruf
und als immer nötiger erachtet wird. Ich meine dass die
Vermittlung gemeinsamer Werte zu Bildungsauftrag gehört;
nicht als lästiger Anhang, sondern als notwendiges Kennenlernen
von Richtlinien, an denen wir uns orientieren können.
Was heisst, «die Pflichten meines Amtes
wissenhaft erfüllen»? Es heisst für mich ehrlich
bleiben, die Grundbedürfnisse aller Menschen im Auge
behalten, ihnen möglichst wehend Rechnung tragen und
den Grundversicherungen nicht anheim fallen. Das heisst, dass
ich Politikerin nicht manipulierbar werde und der Versuchungen
von Macht, Besitz und Beliebtheit widerstehe. Die Vorstellung
von einer Welt, der das Amtsgelübde von allen ernst genomimen
wird und die Amtsführung uneigennützig geschieht,
mag idealistisch anmuten. Doch ich würde mir davon weniger
breite Unterschiede zusehen Reich und Arm erhoffen, sowie
vermehrte Anstrengungen zur Friedensförderung und einem
sorgfältigeren Umgang mit der Schöpfung, Es sind
wesentliche Voraussetzungen für das langfristige Wohlergehen
aller Menschen hier be und in der Welt. Vielleicht müssen
die Wählerinnen und Wähler uns Politikerinnen und
Politiker hie und da an unser Gelübde, unser Versprechen
erinnern.
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