|
Mein erstes Jahr im Kantonsrat
Immer wieder werde ich gefragt, wie es mir im Kantonsrat gefalle, was wir machen und wie es so läuft. Das Einläuten des zweiten Amtsjahrs ist ein schöner Anlass, um eine erste Rückschau zu halten. Die neue Funktion gefällt mir gut, die Arbeit ist spannend und die Möglichkeit zur politischen Mitgestaltung passt mir. Die Bilanz ist also durchaus positiv.
Der Ratsbetrieb
An den Ratsbetrieb habe ich mich rasch gewöhnt. Ich sitze auf Platz 72, links, in der hintersten Reihe. Die fest eingebauten Klappsitze erinnern an ein Chorgestühl; verlassen kann man sie nur, wenn die Sitznachbarn aufstehen und Platz machen. Gesprochen wird im Rat schriftdeutsch, mit vorgegebenen Maximal-Redezeiten. Wer überzieht, wird unerbittlich unterbrochen. Je nach Art des Geschäfts (Interpellation, Postulat, Motion, Parlamentarische Initiative) dauert die Redezeit zwischen 2 und gegen 30 Minuten. Die Länge der Fraktionserklärungen richtet sich nach der Stärke der Fraktion, was für die EVP gerade noch 2 Minuten ergibt. Eine Regelung, die mir eher merkwürdig vorkommt.
Die Ratssitzungen finden jeden Montagmorgen statt, von 8.15 bis 12 Uhr, mit einer halbstündigen Pause. Am Nachmittag treffen sich die EVP-Kantonsrät/innen zur Fraktionssitzung. Hier werden die Ratsgeschäfte erörtert. Je nach Kommissionszugehörigkeit und persönlichem Interesse wird die vertiefte Auseinandersetzung mit den einzelnen Geschäften und die Berichterstattung ans Fraktionskollegium übernommen. Darauf diskutieren wir die Inhalte, um möglichst zu einer einheitlichen Fraktionsmeinung zu finden. Es werden aber auch neue Vorstösse ausgeheckt und die verschiedenen Arbeiten verteilt. Wenn unsere Meinungen zu Sachgeschäften weit auseinander liegen, finden auch heftige Debatten statt. Das stört mich kaum, im Gegenteil, denn so kommen verschiedene Argumente zusammen, die meinungsbildend wirken und für eine wirkungsvolle Vertretung im Rat nötig sind. Es ist grosses Engagement spürbar; wir alle bemühen uns um eine differenzierte Auseinandersetzung und sorgfältiges Abwägen und schliessen ausser Kosten und Nutzen auch die Verhältnismässigkeit, ethische Verantwortbarkeit, Nachhaltigkeit und Ertrag in die Wertung ein.
Themen und Sachgeschäfte
Bereits in der 5. Kantonsrats-Sitzung meldete ich mich zu Wort, wohl wissend, dass man als Frischling noch etwas länger warten müsste. Ich sprach dies auch gleich an und gab zu verstehen, dass eine Schulpräsidentin beim Thema „Poolstunden“ nicht schweigend warten könne. Damit stiess ich auf Verständnis und habe mich seither nicht häufig, aber immer wieder zu einzelnen Sachgeschäften geäussert. Sämtliche Vorstösse und Gesetzesänderungen, die zur Bearbeitung der Kommission für öffentliche Sicherheit und Soziales zugewiesen werden, habe ich parteiintern zu behandeln und bei freier Debatte im Rat zu vertreten, da ich die EVP in dieser Kommission vertrete. Beispiele solcher Themen waren im vergangenen Jahr z.B. Interpellationen zur Rechtstellung der „Sans Papiers“ und betreffend Einkaufsartikel für Gefangene, die Revision des Gesetzes für das Sozialversicherungsgericht, die Abänderung einzelner Artikel des Steuergesetzes und das neue Polizeigesetz.
Das klingt auf dem Papier vielleicht langweilig, ist es aber im konkreten politischen Alltag überhaupt nicht. Denn die Folgen unserer Entscheide treffen immer Menschen und können grosse Auswirkungen auf die Gestaltung unseres Zusammenlebens, auf soziale Gerechtigkeit, wirtschaftliche Prosperität, aber auch auf die Effizienz des Service public haben. Gerade bei der umfangreichen Erarbeitung des neuen Polizeigesetzes galt es, sehr unterschiedlichen Ansprüchen zu genügen und mit dem neuen Gesetz die jahrelangen Querelen um Zuständigkeiten zwischen Stadt und Kanton endlich zu
beenden. Wir waren von einer problemlosen Annahme im Rat überzeugt, doch im letzten Moment wurde die Absetzung von der Traktandenliste beantrag. C’est la politique…!
Chancen für Kinder
Im letzten Herbst machte ich erstmals in einem Initiativkomitee mit und engagierte mich stark bei der Unterschriftensammlung. Die Initiative „Chancen für Kinder“ will mit gezielten Ergänzungsleistungen die Armut bei jungen Familien zum Verschwinden bringen. Am 15. März 2004 wurde sie mit über 15'000 Unterschriften dem Kantonsrat übergeben. Im nächsten Jahr wird das Volk darüber abstimmen können. Der grosse Effort ist für den Abstimmungskampf ist bereits vorprogrammiert.
Doch vorher, am 26. September, kommt die eidgenössische Mutterschaftsinitiative zur Abstimmung, die Vorlage für einen Erwerbsersatz für berufstätige Mütter während dem Mutterschaftsurlaub. Dass sie die nicht-berufstätigen Mütter benachteiligt, empfinde ich als Makel. Ich betrachte sie jedoch als ersten, wichtigen Schritt in die richtige Richtung und werde die Initiative tatkräftig unterstützen.
Bildungspolitik und Sanierung 04
In der Bildungspolitik ist nach der Ablehnung des neuen Volksschulgesetzes noch keine Ruhe eingetreten. Einzelne Elemente können nun auf Gesuch hin und bei eigener Finanzierung trotzdem vollzogen werden. Alle paar Wochen werden bei der Bildungsdirektion wieder neue Vorgaben kommuniziert. Die haarsträubenden Kürzungen bei der Handarbeit, Hauswirtschaft und beim Religionsunterricht lösen Wirbel aus, die jedoch – bei genauem Hinsehen - nicht auf pädagogische Erkenntnisse, sondern einzig auf die fehlenden Finanzen zurückzuführen sind. Dem Staat fehlt eben das Geld. Die 5%-ige Senkung der Steuern und der wirtschaftlich bedingte Rückgang bei den Steuererträgen zwingen zum Sparen und führen zusammen mit der Abschaffung der Erbschaftssteuer und der Handänderungssteuer im Kanton zu 600 Millionen Mindereinnahmen. Diese sind nun durch die drastischen Sparmassnahmen auszugleichen. Eine Alternative wäre die Anhebung des Steuerfusses, doch eine solche ist durch die Mehrheit des Kantonsrats, bestehend aus SVP, FDP und CVP leider gescheitert.
Nichts mit Sparen hat die umstrittene Einführung des Frühenglisch zu tun. Ich wehre mich nicht dagegen, bin jedoch der Meinung, der Beginn solle wie in den anderen Kantonen erst auf das 3. Schuljahr gelegt werden und bedinge auch früh einen konsequenten Gebrauch des Schriftdeutschen.
Nächste Aufgaben
Nach der Ablehnung sämtlicher Abstimmungsvorlagen Mitte Mai, habe ich eine Motion mitunterzeichnet, die ein Familiensplitting auf kantonaler Ebene einführen will. Der Systemwechsel, wie er für Familienbesteuerung geplant war, liegt mir auch als Mitglied der Gleichstellungskomission am Herzen. Auch die neuartige Besteuerung des Wohneigentums mit dem Verzicht auf Steuerabzug für Hypotheken und der Abschaffung des Eigenmietwerts fand ich unterstützenswert. Aber das nachträgliche Überladen der Vorlage hat dann das Ganze kippen lassen. Hier bleibe ich dran.
Als Kantonsrätin erhalte ich auch viele Einladungen zu Jubiläumsfeiern, Vernissagen, Sport- und anderen Veranstaltungen. Das ist eine angenehme Begleiterscheinung meiner Ratstätigkeit und verschafft mir Einblick in vieles, sowie Begegnungen mit Menschen aus ganz andersartigen Tätigkeitsbereichen. Ich schätze und geniesse dies. Zudem konnte ich schon mehrmals in der Lokalzeitung oder an Veranstaltungen berichten und stehe dafür auch gerne zur Verfügung, wenn es die Agenda erlaubt.
Das wären ein paar Eindrücke aus meiner Tätigkeit als Kantonsrätin. Ich nehme mir vor, Sie auf diese Weise weiterhin an meinen Erfahrungen Anteil nehmen zu lassen. Sollten Sie jedoch diese Berichte in Zukunft lieber nicht mehr erhalten, bin ich froh um eine kurze Mitteilung. Wenn Sie die Berichte ebenso gerne per E-Mail empfangen, bitte ich Sie um ein entsprechendes Mail.
Ich danke Ihnen für Ihr Interesse und wünsche Ihnen einen gesunden und schönen Sommer.
Mit herzlichen Grüssen,
Lisette Müller-Jaag
|
|