Artikel Juli 2009 , Anzeiger aus dem Bezirk Affoltern

 

Kantonsräte meinen.. von Lisette Müller-Jaag, Knonau

Vielleicht haben wir uns alle geirrt.

Ohne Wachstum kein Wohlstand! Was jahrzehntelang als Wahrheit oder wirtschaftliches Glaubensbekenntnis galt, ist letztlich nur eine Behauptung. Und wenn wir der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise etwas Positives abgewinnen wollen, dann müssen wir wohl bei dieser Behauptung ansetzen. Den Wachstumsglauben konnten wir nur aufrechterhalten, weil wir die Bilder seiner Grenzüberschreitungen nicht sehen wollten. Tausend Mal mehr verdienen, nur weil man Manager und nicht Sachbearbeiter ist? Mehr Musik auf dem iPod, als man im ganzen Leben hören kann? Mehr Artikel im Supermarkt, als Grossfamilien durchtesten können? Mehr Hubraum unter der Motorhaube eines Personenwagens, als früher die Nutzfahrzeuge hatten? Heisst Wachstum zwingend „immer mehr“ oder kann es auch „immer wieder“ bedeuten? Soll die Sonne immer heisser werden oder genügt es nicht, wenn sie am Morgen wieder aufgeht?

Zum Wachstumsglauben gehört auch das Bekenntnis, ein Unternehmen müsse permanent neue Bedürfnisse bei den Konsumenten wecken. Aber um welche Bedürfnisse es gehen soll, wird wenig diskutiert. Und wir blenden auch gerne aus, dass in einer globalisierten Welt Bedürfnisbefriedigung ebenfalls global betrachtet werden muss. Denn ausser einer Finanzkrise gibt es ja auch eine Ernährungs-, Armuts- und Sicherheitskrise. Die Energie wird knapper und das Klima wärmer. Intakte Landschaften müssen auf eine UNESCO-Liste kommen, damit unsere Kinder sie noch erleben können. Unsere Welt als Freizeitpark und Disneyland?

Kultur- und Gesellschaftspessimismus? Nein! Aber Loslassen ist eben leider mit Schmerzen verbunden. Und wenn uns die gegenwärtigen Krisen dazu zwingen, von einem falsch verstandenen Wachstumsglauben Abschied zu nehmen, sollten wir dies als Übergangszeit verstehen, die wir politisch gestalten können und müssen. Wieso nicht für eine „Kultur des Genugs“ einstehen, wie sie Dr. Bob Goudzwaard, früheres Parlamentsmitglied in Holland, fordert? Ich teile jedenfalls seine Meinung, dass wir globale Probleme allzu kurzsichtig oder gar blind betrachten, weil wir in einer wachstumsorientierten Betrachtungsweise gefangen sind. Goudzwaards Aufruf am Berner Kongress des European Christian Political Movement, ECPM, die aktuelle Krise zu nutzen, die Volkswirtschaft entsprechend umzubauen und die Idee der Sozialpartnerschaft neu zu beleben, ist doch alles andere als pessimistisch. Im Gegenteil, solche Ziele geben uns wieder eine Orientierung. Sein Landsmann Prof. Emile Vanbeckewoorf sagte ja auch, wie wir diese Ziele erreichen, indem er die Werte und Tugenden aufzählte, an denen sich die Wirtschaft ausrichten müsse.

Die EVP ist Mitglied beim ECPM. Diese europäische Bewegung steht für Werte ein, welche bisher jede Krise überwunden haben und daher auch für die gegenwärtige wegweisend sein können. Dr. Peter Henning, ehemaliger Rektor des Theologisch-Diakonischen Seminars in Aarau, postuliert ein Primat der Ethik, vor aller Politik und Ökonomie. Auch weil er davon überzeugt ist, dass in Gottes Schöpfung die Maxime der Lebensdienlichkeit gilt. Es braucht eine Änderung unserer Zeitmentalität, obwohl oder gerade weil uns alles sofort zur Verfügung steht. Es braucht eine Aufwertung des Wartens, Erarbeitens und Verdienens. Wenn wir uns in Geduld üben, entdecken wir wieder, welch ein Genuss auch Vorfreude sein kann. Die Subito-Mentalität macht uns nicht glücklicher und hat einen allzu hohen Preis. In der Ökologie ebenso wie in der Politik. Daran erinnert der  Zürcher Regierungsrat Dr. Markus Notter im Tages Anzeiger vom 4. Juli, wenn er sagt: „Im Feuerwerk der Politik verpufft die Ethik. Der Politalltag ist voller Hektik und Sachzwänge. Für Gewissensfragen fehlt meist die Zeit.“

„Global denken – lokal handeln!“ Dieser Slogan hat nichts an Glaubwürdigkeit verloren und ist heute aktueller denn je.  Denn Politik ist dann sozio-ökologisch, wenn Menschen die globalen Realitäten in der lokalen Politik mitbedenken. Doch wie weit das Tagesgeschäft von dieser Philosophie noch immer ist, wurde mir am letzten Montag im Kantonsrat wieder bewusst. Zu behandeln war der regierungsrätliche Geschäftsbericht mit der Rechnung 2008: Nach vier Jahren mit Überschüssen von 2,2 Mrd. Franken braucht es keine prophetische Gaben, um das Ende dieser erfreuliche Entwicklung zu vorherzusehen. Mein Fraktionskollege Peter Ritschard sagte: „Wenn keine aggressiven Steuersenkungen stattgefunden hätten und der Aufwand im Lot gehalten worden wäre, hätten wir in den letzten vier Jahren einen Überschuss von über 4 Mrd. Franken erzielt. Die Verschuldung des Staates mit heute 3,5 Mrd. Franken hätte bis auf einen kleinen Restbetrag fast zum Verschwinden gebracht werden können“. Wenn die Steuersenkungen der vergangenen Jahre nicht gewesen wären und der Kanton mit dem Kantonsrat die Ausgaben im Griff gehabt hätte, wäre die Ausgangslage heute sehr komfortabel. Wir könnten als Verantwortliche mit gutem Gewissen die Finanzlage des Kantons betrachten, weil den Ausfällen im Steuerertrag ein grosser Spielraum auf dem Kapitalmarkt gegenüber stünde. Statt eines konsequenten Schuldenabbaus hat der Kanton, hat die Mehrheit im Kantonsrat, in den vergangenen Jahren Steuern abgeschafft und gesenkt. Wie durch die Aushungerung des öffentlichen Sektors aus einem Traumstaat ein Albtraumstaat wird, demonstriert uns Kalifornien.

Die schlechten Beispiele sollten wir zur Schärfung unseres Blicks in die Zukunft benutzen, um positiv nach vorne zu schauen. Denn so finden wir auch die Möglichkeiten und Mittel, mit denen wir Krisen überwinden und neue Wertschöpfung generieren können. Politik auch als Ort der Zuversicht. Wenn wir mit Investitionen in Energieeffizienz und erneuerbare Energien gleich drei Fliegen auf einen Schlag treffen können, sollen wir das Gebot der Stunde nutzen. Die Produktion erneuerbarer Energien und deren Weiterentwicklung bekommt einen markanten Schub, die Drosselung des Energiebedarfs im Gebäudebereich und der zunehmende Verwendung von erneuerbaren Energien entlasten die Umwelt und die Investitionen generieren Arbeit sowie Einkommen und kurbeln die Wirtschaft an. Weil wir doch alle gerne auf dem Siegerpodest stehen, sollten wir neue Wege wagen und gewinnen.
Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern einen sonnigen Sommer.

 

 

Lisette Müller-Jaag, Kantonsrätin EVP, Knonau

 
  14-Feb-2011 aktualisiert