Artikel vom 03.02.2006, Anzeiger aus dem Bezirk Affoltern

 

Kantonsräte meinen.. von Lisette Müller-Jaag, Knonau

Auch „ausgesteuert“ heisst ohne Arbeit

„Lehrstellen statt kalt stellen“. Diesen Satz stellte ein besorgter Bürger seinem Appell an die Mitglieder des Kantonsrates voran und gab die Lancierung einer Petition zur Schaffung eines Berufsbildungsfonds unter dem gleichen Namen bekannt. Danach beschwerte er sich kraftvoll über die wenigen Lehrstellen und die Untätigkeit des Staates, Jugendlichen eine Zukunft zu ermöglichen. Ich verstehe die Wut des Verfassers. Und ich kann ich sie sogar nachempfinden wenn ich an einige Voten in der Ratsdebatte von letzter Woche zu diesem Thema denke. Die Nachfrage bei regionalen Arbeitsvermittlungsstellen liess vernehmen, dass verschiedentlich Wartelisten für Einsatzplätze bestehen, wenn auch die Situation nicht überall gleich prekär ist. Der Blick in die Statistik der letzten Monate zeigt kleine Veränderungen im Kanton. Da geht die Kurve ein bisschen runter, dort leicht hinauf. Tendenziell ist die Zahl der Arbeitslosen geringfügig gesunken. Für die Zürcher Volkswirtschaftsdirektion offenbar Grund genug, lautstark den Rückgang der Arbeitslosigkeit zu verkünden, im zuständigen Departement privaten Beschäftigungsprojekten die Bewilligung zu verweigern und sogar den Abbau der bestehenden Programme zu propagieren. Hurra, geschafft. Doch reine Zahlen trügen. Die Zahl der Stellensuchenden ist im Dezember wieder merklich angestiegen. Was ist mit der Statistik bloss los? Ganz einfach, zu den Arbeitslosen werden nur Menschen gezählt, die während ihrer “Arbeitslosigkeit“ keine neue Stelle gefunden haben. Danach nennt man sie „ausgesteuert“ und legt sie unter einer anderen Zahlenreihe ab. Arbeit haben sie deshalb noch immer nicht. Sie haben lediglich ihre 400 Stempeltage bezogen und ihre Berechtigung für weitere Taggelder aus der Arbeitslosenversicherung verloren. Also nennt man sie nicht mehr arbeitslos. So einfach ist das.

Gar nicht einfach ist dies jedoch für die Betroffenen. Stellenverlust und Arbeitslosigkeit gehören zu den einschneidendsten Erlebnissen in einer Gesellschaft, die sich vorwiegend über die Arbeit definiert. Ausser dem bisherigen Einkommen geht noch viel mehr verloren. Wer aus seiner Arbeitswelt herausgerissen wird, verliert ein Stück seiner Identität. Nicht nur weil die Tagesstrukur anders ist, sondern auch weil plötzlich all die Geschichten fehlen, die uns Menschen und Geschehnisse im beruflichen Alltag erzählen. Und wo die Identität ins Wanken kommt, machen sich Scham, vielleicht auch Wut und Trauer breit. Wie viele Firmen haben in den vergangenen Monaten und Jahren Arbeitskräfte entlassen? Sich von langjährigen, kompetenten und loyalen Mitarbeitenden getrennt? Einfach Schicksal? Haben andere einfach Glück, nicht auf den Lohnlisten eines Unternehmens zu stehen, das seine Produktion ins Ausland verlegt, besser geführt wird oder bessere Beziehungen hat? Oder ist es mehr als Schicksal, wenn die SBB ihren Krawattenauftrag nach China vergibt oder die Axpo ihre Millionen nach Italien fliessen lässt?

Es darf nicht sein, dass sich die Wirtschaft auf Kosten des Staates gesundschrumpft. Umgekehrt darf es aber auch nicht sein, dass der Staat seine Aufträge einfach aus Kostengründen den eigenen Betrieben entzieht. Fremdvergabe ist oft nur deshalb kostengünstiger, weil die Folgekosten dem Staat aufgebürdet werden.

Junge Menschen wollen gebraucht werden, wie wir alle. Auch in der Arbeitswelt. Die Jugend ist die Zukunft unseres Landes. Es ist nötig, dass genügend Arbeits- und Ausbildungsplätze zur Verfügung stehen, damit sich junge Menschen bewähren und Erfahrungen sammeln können. Unsere Stärken und Schwächen entdecken wir im Leben, im Beruf. Doch wie will man lernen, wenn Lehrstellen fehlen? Und wie will man seiner Berufung nachkommen, wenn man seinen Beruf nach dem Lehrabschluss nicht ausüben kann? Im Dezember 2005 waren im Kanton Zürich 7608 20-29-jährige Männer und Frauen arbeitslos und dazu noch mindestens ebenso viele „stellenlos“. Die Zahl der Arbeitslosen hat sich in den letzten Jahren nicht wesentlich verändert. Nur ihre statistische Verbuchung. Klingt hart und ist schon beinahe zynisch.

Es ist dringend nötig, dass mit Mut und Kreativität nach Lösungen zur Überbrückung der Erwerbslosigkeit gesucht wird. Besonders auch für junge Menschen. Der vorübergehende Einsatz in geeigneten Betrieben mit unterstützenden Betreuungskonzepten bewährte sich. Doch es braucht noch mehr solcher Praktikumsplätze und Plätze zur vorübergehenden Beschäftigung. Dringend und im Kanton. Neben den staatlichen Angeboten gibt es auch eine grosse Zahl von privaten Angeboten und Initiativen, die in der Planung weit fortgeschritten sind und bald starten könnten. Doch behandeln kantonale Stellen solche Einsatzprojekte nicht mit der nötigen Ernsthaftigkeit. Betrachtet man ihre engen Vorgaben und bürokratischen Hindernisse genauer, könnte man schon fast von Widerwillen sprechen. Das darf doch nicht sein.

Die hohe Sockelarbeitslosigkeit bei jüngeren Menschen muss dringend gesenkt werden. Unsere Jugend und junge Erwachsenen brauchen positive Perspektiven. Denn gleiten Menschen ab, muss unsere ganze Gesellschaft für die langfristigen Schäden bezahlen. Und dabei geht es nicht nur um Geld. Mit ihrer Petition für mehr Lehrstellen kämpfen engagierte Junge für mehr Ausbildungsplätze in Betrieben. Gleichzeitig sind unzählige Berufsleute auf der Suche. Wenn es schon an Angeboten fehlt, soll der Kanton wenigstens private Initiativen zulassen, umsetzungsfähige Projekte bewilligen und unkompliziert zu deren Verwirklichung Hand bieten. Kalt stellen statt Lehrstellen oder auch eine vorschnelle Entwarnung – das ist bestimmt keine gescheite Antwort auf die offenen Fragen.

Knonau, 1.2.2006

Lisette Müller-Jaag Kantonsrätin Knonau




 
  14-Feb-2011 aktualisiert