Artikel vom Juni 2010, Anzeiger aus dem Bezirk Affoltern

 

Kantonsrätinnen meinen.. von von Lisette Müller-Jaag,

Wie viel Staat braucht die Schweiz?
Christliche Politik zwischen Eigenverantwortung, Privatinitiative und Hilfe durch den Staat.

Begeisterung macht glücklich. Und Pfingsten erinnert uns auch daran, diesen Geist immer wieder zu suchen, der neuen Auftrieb gibt. Seit ich im Kantonsrat bin, habe ich mir über Pfingsten jeweils eine Auszeit gegönnt und am überparteilichen Politseminar in Rasa, Moscia oder dieses Jahr auf dem Kerenzerberg teilgenommen. Die Distanz zum Tagesgeschäft, die Abgeschiedenheit nahe bei der Natur und der persönliche Austausch sind wunderbare Mittel, sich wieder einmal mit bestimmten Fragen intensiver zu beschäftigen. Das diesjährige Thema regte an, über die Rolle des Staates nachzudenken. Wo machen seine Eingriffe Sinn? Wann schränkt er unsere Eigenverantwortung ein? Und wie viel Raum soll er Privatinitiativen gewähren? Besonders spannend sind solche Fragen, wenn sie mit Exponenten von Links und Rechts gemeinsam erörtert werden.

Das Beste suchen und finden.
Alles vom Staat (Etatismus) oder alles von der Privatinitiative (Liberalismus) zu erwarten, ist aus christlicher Sicht kein gangbarer Weg. Denn für die gesunde Entwicklung einer Gesellschaft braucht es beides. Daher müssen wir nach dem sinnvollen Akteur auf der wirkungsvollsten Stufe fragen (Subsidiarität). Eine starre Verteilung der Rollen führt in die Sackgasse. Nur wenn wir die Verantwortung gemeinsam teilen, kommen wir dem Ziel näher, das Gemeinwohl zu fördern. Ganz nach dem biblischen Motto: "Suchet der Stadt Bestes."

Nicht jeder baut sein eigenes Stücklein Strasse
Der Staat darf und soll sogar eine Hauptrolle übernehmen, wenn es um die Festsetzung von Grundregeln geht: Regeln für das Zusammenleben, die Wirtschaft, die Rechtsordnung oder den Föderalismus. Den Staat braucht es, wenn Einzelne oder private Gruppierungen wichtige Probleme nicht so lösen können, dass berechtigte Interessen der Gemeinschaft berücksichtigt werden. Zum Beispiel, wenn wir gute Schulen und Spitäler wollen. Oder im Strassenbau; denn schliesslich macht es wenig Sinn, wenn jeder Grundeigentümer ein paar Meter selber bauen müsste. In einer modernen Gesellschaft lässt sich nicht alles privatisieren, so schön solche Vorstellungen auch klingen mögen. Wenn die Aufgabe zu komplex und die Zahl der Beteiligten zu gross ist, muss eine übergeordnete Instanz bei der Lösung mithelfen. Der Staat soll aber auch eingreifen, wenn der Einzelne zur Gefahr für die Gemeinschaft wird, also in der Strafverfolgung. Oder wenn sich Machtverhältnisse so stark verschieben, dass Korrekturen notwendig sind, um Chancengerechtigkeit zu gewährleisten. Da sich Macht nicht selber begrenzt, braucht es einen Staat, der sie bezeichnet. Und natürlich Gewaltentrennung. Zudem muss uns der Staat nach aussen vertreten, da die Sitzplätze an Konferenztischen beschränkt sind.

Der Staat kann nicht „lieben“
Privatinitiativen können Innovationen anstossen und Lösungsvorschläge anbieten, so wie das auch im Quartier oder im Unternehmen geschieht. Das löst Entwicklungsschübe aus und bringt unsere Gesellschaft vorwärts. Besonders wichtig ist persönliche Initiative auch dort, wo Probleme erkannt und Missstände aufgegriffen werden. Überall dort, wo es um menschliche Beziehungen und Nächstenliebe geht, ist die Wirkungskraft einer anonymen Organisation beschränkt. Der Staat kann nicht „lieben“. Es braucht Menschen, die sich privat oder in der Gemeinschaft von Kirchen und Vereinen anderer Menschen annehmen, Verbundenheit leben und Gefühle austauschen. Private Initiative ist auch dann gefragt, wenn staatliche Strukturen und Mittel fehlen.

Die Gesellschaft setzt die Werte, der Staat die Normen
Sehr viel kann bewerkstelligt werden, wenn der Staat und die Privatinitiative zusammenarbeiten. Mit Vereinbarungen und Leistungsverträgen kann der Staat, und zwar Bund, Kantone und Gemeinden, Aufgaben delegieren und Ressourcen zur Verfügung stellen. Die Privatinitiative setzt um und trägt dem Staat gegenüber die Verantwortung. Einzel- und/oder Privatinitiativen bringen die Werte; der Staat schafft die Normen. Die gesellschaftlichen Werte sind die Grundlage für die Rechtsordnung, sie sind in der Gesetzgebung verankert. Darin spiegeln sich das Menschenbild und die Wurzeln unserer Kultur. In unserer christlich geprägten Kultur sind es die christlichen Werte. Sie garantieren Grundrechte und wollen den Schutz der Schwächsten. Diese Werte liegen dem Aufbau unseres Sozialsystems zugrunde, der AHV, der IV und bis vor Kurzem auch des Ausländerrechts. Versöhnlichkeit und die Möglichkeit persönlicher Läuterung finden sich in verschiedenen Artikeln des Strafgesetzbuchs. Und die Gleichberechtigung leitet sich aus der Würde eines jeden Menschen ab.

Gelingendes Zusammenleben
Wer hier lebt, muss unsere Kultur kennen, um unsere Regeln zu verstehen. Daran halten müssen sich alle, das gehört zu den Spielregeln. Wer nicht dazu bereit ist, hält sich am falschen Ort auf. Doch es braucht zuweilen auch die prophetischen Stimmen der Kirchen, die in Erinnerung rufen, welchen Werten wir uns verpflichtet haben. Sie wird nicht immer gehört. Sonst wäre keine Finanzkrise notwendig gewesen, um die Problematik des Bankgeheimnisses aufzudecken. Gelingendes Zusammenleben – und das erleben wir ja glücklicherweise auch heute noch oft – ergibt sich, wo alle ihren Teil dazu beitragen, Verantwortung übernehmen und nur das für sich in Anspruch nehmen, was sie wirklich brauchen. So viel Staat wie nötig – so viel Eigenverantwortung wie möglich. Und in allem Achtung und Wertschätzung, unabhängig von Besitz und Macht.


Lisette Müller-Jaag
Kantonsrätin EVP, Knonau


 
  14-Feb-2011 aktualisiert